Walter Powell Point
Anfang September. Wir sind einmal mehr in Flagstaff und wollen von dort aus eine Tour unternehmen, die schon Jahre in der Planung ist. Das Ganze hat eine lange Vorgeschichte!
In den 90er Jahren des 20. Jh. waren wir zweimal den steinigen Trail vom Desert View am Südrand des Grand Canyon bis hin zu einem der besten Aussichtspunkte im National Park - Cape Solitude - gefahren. Mit unseren damaligen off highway - Kenntnissen ein anstrengendes Abenteuer. Und ein reifenmordendes dazu!
Der Ausichtspunkt, hoch über der Mündung des Little Colorado Rivers in den Colorado River gelegen, bietet ein Panorama, das selbst am Grand Canyon seinesgleichen selten findet. Dafür nahmen wir die Anstrengungen gerne auch ein zweites Mal auf uns.
Bill Weir hatte ursprünglich den entscheidenden Hinweis geliefert und wir waren froh ihm gefolgt zu sein. In einem deutschen Reiseführer fand Cape Solitude auch Erwähnung, aber wie wir feststellten stand dort ein solcher Unsinn, dass die Schlussfolgerung nur lauten konnte: Der Autor war nie vor Ort.
Cape Solitude liegt auf der Hochfläche, die vom Little Colorado River durchschnitten wird. Die Deckschichten bestehen aus hellem Kaibab Limestone, der eine enorme Härte besitzt und in der Regel in scharfkantige Stücke zerbricht. Eine Tortur für Reifen, insbesondere wenn das unbedingt erforderliche SUV lediglich Strassenreifen trägt. Ganze Profilblöcke können aus der Oberfläche geschnitten werden.
Das Cape mussten wir nie mit Anderen teilen - leider nur am Boden! Es lag/liegt unter einer der meistbeflogenen Sightsseeing-Routen. Auch wenn die Fluggeräte eine bestimmte Höhe einhalten müssen - tun sie es auch? - der Lärm am Boden ist gelegentlich infernialisch. Naturschutz wird hier offenbar aus Profitgründen ganz klein geschrieben!
Dann in 1998 - wir hatten davon erfahren, dass der Trail ab Desert View aus Umweltschutzgründen für Fahrzeuge gesperrt worden war - versuchten wir unser Glück erneut. Wegen der Sperre dieses Mal durch das sog. Lower Basin am Westrand der Little Colorado Gorge, das schon zur Navajo Nation gehört. Die Navigation war nicht immer ganz einfach, aber mit Hilfe der Landmark Gold Hill gelang es uns, von Süden in Richtung Cape Solitude vorzustossen.
Letzendlich erfolglos. An der Grenze zum National Park hatte man einen hohen Drahtgitterzaun errichtet. Drüberklettern, Laufen? Bis zum Cape sind es steinige und gnadenlos sonnige 5-6 Meilen one way. Darauf waren wir zum einen nicht vorbereitet und zum anderen bemerkten wir plötzlich herannahendes schlechtes Wetter aus Richtung des nördlich gelegenen Shinumo Altars. Enttäuscht gaben wir auf, wurden wenig später von Regen eingeholt.
Das Erlebnis lies mich nicht ruhen. Das Cape war Bestandteil der Hochebene, die sich nördlich des Little Colorado Rivers in der Navajo Nation fortsetzt, im Westen begrenzt vom Marble Canyon, im Osten von den Echo Cliffs entlang der US 89. Die Südgrenze wird vom Little Colorado River gebildet. Konnte man auf die Nordseite des Zusammenflusses gelangen? Dort sollte der Ausblick ähnlich grossartig sein. Topomaps machten Mut - es sollte gehen! Letztendlich dauerte es dann fast ein Jahrzehnt, bis wir den Versuch starten konnten.
Aufbruch in Flagstaff erst nach 10 Uhr, da wir noch einiges zu erledigen hatten. Die schon so oft gefahrene US 89 nach Cameron und von dort weiter nach Norden am Abzweig der US 160 in Richtung Kayenta vorbei.
Wir wollen bei 12S 0464128, 4002991 vom Highway auf eine der vielen Dirtroads nach Westen abbiegen, fahren natürlich erst einmal daran vorbei. Die Gravelroad ist breit und in gutem Zustand.
Wir überwinden eine kleine Hügelkette. Vor uns dehnt sich eine öde Hochfläche, nur von wenigen kahlen Erhebungen im Nordwesten unterbochen. Auf diese müssen wir zuhalten, um die Ausläufer tiefer Seitencanyons des Little Colorado zu umgehen.
Unzählige Spuren gehen von der breiten Road ab. Wir bleiben, vom GPS unterstützt auf der grossen Road. die uns letztendlich südlich an den Erhebungen - die Yon Dot Mountains - vorbeiführen soll.
Langsam, fast unmerklich vermindert sich die Qualität der Road je weiter wir uns von der US 89 entfernen. Noch immer zweigen alle paar hundert Meter Spuren ab, scheinbar ins Nichts. Die ganze Ebene muss damit wie von einem Spinnennetz überzogen sein. Auf den Topomaps sind es schon viele, in der Realität noch wesentlich mehr - die meisten nicht kartographisch erfasst. Wozu sie dienen?
Einmal eine Unterbrechung der Öde. Eine Geländeschwelle und die erste scharfe Kurve. In einiger Entfernung sehen wir Pillow Mountain mit seiner "schwindelerregenden" Höhe von rund 50 Metern über dem umliegenden Land. In solcher Gegend ist man schon für kleine Landmarks dankbar!
Wir steigen auf der schmaler werdenden Road um ca. 50 Höhenmeter ab. Steiniger fällt der Weg hier aus. Westlich des Zwergenberges wenden wir uns mehr nach Norden um die nördlichsten Ausläufer des Salt Trail Canyons bzw. des Bekihatso Washs zu umfahren, der zwischen uns und dem Ziel liegt. Rechts von uns die Yon Dot Mountains, zwar etwas höher aber praktisch featurelos und kahl.
Ein einziges Fahrzeug war uns seit der US 89 begegnet. Am Steuer ein Native - das kleine grüssende Handzeichen von ihm und mir ausgetauscht. Mehr braucht es nicht. Ganz selten weiden einige Tiere in der kargen Landschaft.
Von Roads kann man hier nicht mehr sprechen, die Wege sind einspurig, mittig bewachsen. Die Spuren zweier Räder eben. Immer noch zweigen andere Wege nach allen Seiten ab, manche offenbar alt und nicht mehr genutzt, andere besser. Scheinbar entstehen immer wieder neue Spuren, ganz nach Bedarf.
Der Untergrund ändert sich, es wird wesentlich steiniger. Deutlich zu sehen, dass es sich um den reifenmordenden Kaibab Limestone handelt. Hier sollte man mit Besserem unterwegs sein als mit Highway Tires, sonst sind Schäden vorprogrammiert.
Mehrfach zeigt der Vergleich von GPS und Karte, dass wir uns irgendwo zwischen den kartographisch erfassten Routen befinden. Umgekehrt sind Routen der Karte inzwischen verschwunden oder so schlecht, dass man sie nicht benutzen möchte. Besser ist es, eine einigermassen brauchbare Spur in der in etwa richtigen Richtung auszuwählen. Nervenschonend sind sie wegen der vielen Steine alle nicht.
Gehts noch schlechter? Aber bitte - immer! Was haben wir uns nur angetan!
Laut Karte wird die Einöde Blue Moon Bench genannt. Poetischer Name!
Wir kämpfen uns weiter nach Süden mit einem Schlag in westliche Richtung voran. Nochmal eine Wegegabelung, nach der Karte etwas mehr als eine Meile vor dem Ziel. Sehen tun wir noch immer nichts - nur den inzwischen deutlicher hervortretenden Kaibab Uplift.
Ein Weg biegt nach Westen ab, folgen wir ihm!
Nur noch wenige hundert Meter trennen uns vom ersehnten Ziel. Da vorn, das muss es sein! Hat hier jemand Stangen aufgestellt? Wenn ja, wozu?
Die "Stangen"; erweisen sich als mehrere Meter hohe, eingetrocknete Agavenblüten. Und tatsächlich, die Spur führt hinaus auf eine schmale Zuge. Ende!
Aussteigen, wenige Meter nach vorn laufen und der Atem stockt! Das ist es, was wir gesucht haben - das Gegenstück zu Cape Solitude! Nur die Aussichtsplattform ist wesentlich kleiner.
Breathtaking!
Wahrlich, man muss sich erst einmal klar machen - ein ganzer Kilometer in der Vertikalen trennt uns vom Fluss! Wie die Cliffs des gegenüber liegenden Cape Solitudes zeigen ein schaurig schöner Abgrund, an dem man steht. Watch your step!
Wie früher auf der gegenüber liegenden Seite haben wir die Szenerie für uns alleine. Wer ist schon so verrückt und fährt hier raus? Wohl nicht viele.
Zu den Seiten kann man ein Stück des Canyons des Little Colorado Rivers und des Marble Canyons verfolgen. Im Westen ragen die grossen Buttes auf, im Süden grüsst der South Rim mit Desert View. Gold Hill, die hilfreiche Landmark am anderen Ufer als alte Bekannte. Tief unten im Colorado River die Sixty Mile Rapids.
Offiziell hat dieser Punkt keinen Namen. Wie also ihn nennen? Wir beschliessen, Walter Powell die Ehre zu geben, dem Bruder des legendären John Wesley Powell. Als sie auf der Expedition den noch unerforschten Fluss hinab an der Mündung des Little Colorado Rivers anlangten, hatten sie in der tiefen Schlucht die Orientierung in Relation zum Umfeld verloren. Walter Powell machte sich auf den beschwerliche und gefährliche Aufstieg hinauf zum Rim. Dazu benutzte er den ersten nach Norden abzweigenden Seitencanyon in der Schlucht des kleinen Colorado Rivers, kam letztendlich knapp eineinhalb Kilometer östlich unseres Standorts hinauf auf die Ebene. Man sah wieder klarer! (*)
Das was sich vor uns ausbreitet, hat noch mehr Geschichte zu erzählen - eine traurige allerdings! Am 30. Juni 1956 stiessen zwei Passagiermaschinen der TWA und United Airlines in der Luft zusammen, stürzten ab und zerschellten an den gegenüber liegenden Temple und Chuar Buttes. 128 Menschen fanden den Tod - das bis dato grösste Desaster der Luftfahrt.
Man versuchte die Opfer zu bergen, engagierte aufgrund des schwierigen Geländes Spezialisten aus der Schweiz. Die Trümmer ruhten für nahezu ein Vierteljahrhundert, bevor man sich entschloss, sie zu beseitigen. Bei der in die Temple Butte gerasten Super Constellation der TWA gelang das, es finden sich aber immer noch kleinere Überreste des Wracks. Die Bergung der DC-7 von United scheiterte. River Runner berichten, die Trümmer hingen weiterhin in den Spalten der Chuar Butte, seien vom River aus sichtbar.
Hunger!
Der Ice Chest bietet genügend Auswahl, hält Kaltes zum Drinken bereit. Ich studiere die Karten, möchte, wenn wir schon mal in der Gegend sind, noch einen zweiten Punkt aufsuchen. Auch er sollte spektakulär sein.
Nach der Pause machen wir uns auf den Weg nach Norden. Eigentlich mehr nach Nordosten. Wieder hinein in die Einöde der Blue Moon Bench. Diesmal klappt die Routensuche schlechter, wir kommen zu weit nach Osten ab, passieren irgendwann Big Reservoir. Nein, nicht wirklich big! Hier gibt es etwas Vieh.
Wir müssen mehr nach Nordosten. Lady fährt und ich versuche den kürzesten Weg zu finden. Weiterhin Dutzende, wenn nicht Hunderte von Spuren. Manche drehen plötzlich und ohne ersichtbaren Grund um 90 Grad ab. Pech gehabt! In den Karten sind sie sowieso nicht verzeichnet.
Es ist schon spät. Im Bereich des sogenannten Eminence Breaks, einer Geländestufe, landen wir in einem flachen Tal, mehr oder weniger verschwindet der Trail und wir kämpfen uns fast wegelos über einen Wash und einen steinigen Hang hinauf. Dort oben müsste eine grössere Road sein. Zum Glück stimmt das! Jetzt noch 5 Meilen und wir sollten am Ziel sein!
Diese Mal bleibt uns das Glück treu. Fast - denn auf der Querfeldeinstrecke haben wir Sagebrush eingesammelt, der unterm Auto anfängt zu riechen. Durch die Hitze des Auspuffs. Entfernen nahezu aussichtslos. Wir sitzen in einem fahrenden Räuchermännchen. Anfangs noch würzig, später in einem anderen Sinne breathtaking!
Dort eine Spur nach links, das muss es sein!
Weiches abendliches Licht liegt über dem tiefroten Marble Canyon. Die Sonne nähert sich dem westlichen Horizont, vom Kaibab Uplift gebildet. Natürlich blendet es etwas, aber was macht das schon bei diesem Anblick?
Auch diese Stelle hat Geschichte, die zuerst wiederum mit der Powell-Expedition zusammenhängt. Dort unten, wo der Fluss von rechts um die Biegung kommt, dort erkennt man einen hoch ins Cliff der Inner Gorge aufragenden, dunklen Fleck. Vasey´s Paradise. Eine gewaltige Quelle in der Wand des Cliffs. Das Dunkle ist dem starken Pflanzenwuchs zuzuschreiben. Angeblich hängen - von unten, von den Booten gesehen - Millionen von Wassertropfen in den Pflanzen und der Luft, glitzern wie Diamanten. Zu Ehren eines seiner Mitstreiter nannte Powell das Naturphänomen "Vasey`s Paradise".
Stantons Cave ist "just around the corner", berühmt als archäologische Fundstätte einer 3-4.000 Jahre alten Kultur.
Robert Brewster Stanton war im Juli 1889 auf einer Expedition durch den Grand Canyon. Man wollte die Möglichkeiten für eine Eisenbahn durch die Schlucht erkunden. Kurz oberhalb Vasey`s Paradise geschah das Unglück. 3 Männer von Stantons Party ertranken im Fluss. Man brach das Unternehmen ab, rettete sich unter grossen Anstrengungen hinauf auf die hier ca. 800 Meter höher liegende Ebene. Der vermessene Plan wurde glücklicherweise nie realisiert.
Obwohl wir auch hier wieder völlig alleine sind, unbehelligt von den nervtötenden fliegenden Plagegeistern des Grand Canyons, etwas stört!
Wir stehen auf Beton, da ist auch noch ein altes Geländer aus Stahlrohr.
Überreste einer weiteren menschlichen Hybris. Das Bureau of Reclamation, verantwortlich unter anderem für die Erschliessung des amerikanischen Westens, hatte grosse Pläne. Man wollte Staudämme im Grand Canyon errichten und eine der vorgesehenen Stellen zur Errichtung eines Dammes war hier!
Zuerst einmal baute man einen Trail hinunter zum Fluss. Durch den etwas nördlich liegenden Twentynine Mile Canyon. Dann errichtete man in den Jahren 1951/52 eine Seilbahn. Auf deren Fundamenten stehen wir! Die Seilbahn sebst hat die Jahre nicht überdauert, aber der Trail dient heute noch ausdauernden Hikern als Weg hinunter zum Fluss. (**)
Die Stelle hat im Abendlicht etwas ungeheim Friedliches. Es ist einfach schön hier. Und offenbar gefällt es nicht nur uns, haben nicht nur wir friedliche Stimmung:
Es wird Zeit, den Rückweg anzutreten. Bis zur US 89 ist es weit und welchen Zustand die Roads hier weiter im Norden haben wissen wir nicht.
Wir fahren los. Da die Sonne hinter dem hohen Kaibab Plateau untergeht, bricht die Dämmerung recht bald an. Noch ehe es richtig dunkel wird erreichen wir die Indian Route 6110, die uns zurück zur US 89 führt, die wir im Dunklen bei The Gap erreichen. Jetzt müssen wir nur noch zurück nach Flagstaff. Ein Tag mit Ödnissen, Aussichten und Geschichten geht zu Ende.
* Walter Powell`s Route wird von Kelsey im "Non-technical Canyon Guide - Colorado Plateau" (5th Edition vom August 2006) beschrieben. Die mitgelieferte Anfahrtsskizze ist fragwürdig, enthält nahe des Routenbeginns drastische Fehler im Verlauf der Anfahrtswege. Diese fehlerhafte Karte ist offenbar aus anderem, ebenso falschem und veralteten Kartenmaterial abgezeichnet.
** wer sich näher mit der Geschichte des Colorado Rivers in Bezug auf seine Nutzbarmachung auseinandersetzen möchte, der sollte sich "Jared Farmer: Glen Canyon Dammed - Inventing Lake Powell and the Canyon Country" (The University of Arizona Press, ISBN 0-8165-1887-4) beschaffen. Ein Buch voller Hintergrundinformationen, die anderweitig kaum zu erhalten sind.
(Die Bilder stammen von altem Diapositivmaterial. Dementsprechend niedrig ist die Qualität.)